MUNGENAST cs GMBH
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MAG. ART. BARBARA MUNGENAST ist mit ihrem Unternehmen seit 1990 im Corporate Design tätig.
Das Corporate Fahion-Label LES DEUX brachte sie bis 1997 mit Partnerin Anne Beck auf den Markt.
Lehrtätigkeiten auf der Kunstuniversität Linz und auf der TU Graz folgten. Schwerpunkte des Unternehmens liegen im Fashiondesign und in der grafischen Mediengestaltung.

Seit 2010 arbeiten Barbara Mungenast und Rainer Stock gemeinsam an Kunst- und Werbekonzepten unter THE MUST.

 

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Dr. Herbert Lachmayer (Hg.) zur Buchpräsentation von „Mozart – ein ganz normales Wunderkind“

Wien, am 17. August 2007

Spielen und spielerisch hatten nicht nur für die Mozarts eine gemeinsame Wurzel, sondern waren für diese Zeit der „inspiring decadence“ im ausgehenden 18. Jahrhundert Ausdruck einer gesellschaftlichen Lebensart – diese war wesentlich umfassender als der life style von heute. Spiel war Ausdruck des Sinns für das Experimentelle dieser Zeit, schließlich wurde damals die moderne Individualität sozusagen „erfunden“ – insbesondere in den Opern von Lorenzo Da Ponte und Mozart. Haben doch Don Giovanni, Graf Almaviva, Donna Anna, Octavio und Despina weder die Bühnen der Opern je wieder verlassen, noch die Bühnen unserer je eigenen psychischen Inszenierungen. Modern auch deshalb, weil die Damen-Figuren in diesen Opern im Grunde die Playerinnen sind, und nicht die Herren. So in „Le nozze di Figaro“: Susanna und Contessa Alamaviva, nicht der Graf und Figaro – in „Cosi fan tutte“ ist es wohl auch Despina, und nicht allein Don Alfonso, ein „dirty old man“, der sich voyeuristisch am Streit der jungen Paare erregt, den er immerhin selbst inszeniert hat, auch ein Spiel.

Das Spielerische erst machte den Menschen aus war die grundlegende Annahme damals, im Spieltrieb regten die verschiedenen Kräfte der menschlichen Natur einander an. Schiller betonte: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, davon ausgehend bestimmte Huizinga den Menschen als Homo Ludens, den erst diese Qualität zum Schaffen von Gegenständen, zum Homo Faber befähigt. Und Mozart war in diesem Sinne zweifellos ein Homo semper ludens. Er war ein leidenschaftlicher Kartenspieler, Billardspieler und Bölzelschütze, beherrschte die damals wichtigen Gesellschafts- und Wortspiele -  insgesamt kam er auf an die einhundert Spiele. Ob er Glück im Spiel hatte oder ein guter Spieler war, ist nicht belegt. Auch das Repertoire der großen Schwester Nannerl belief sich auf mindestens 69 verschiedene Spiele, darunter zwei dutzend Kinderspiele, ein dutzend Kartenspiele (Brandeln, Schmieren, Tresette, Tarock, Piquet, Quadrille, Quindici), ein dutzend Gesellschafts- und Pfänderspiele, eine Reihe Brett- und Würfelspiele, Kegeln, Lotto und Lotterien, und nicht zuletzt war sie eine ausgezeichnete Bölzelschützin in der „Compagnie“ ihres Vaters. Leopold Mozart war der Lehrmeister der Kinder auch beim Spielen, genauso wie beim Schreiben, Rechnen und Lesen, in den Fremdsprachen, beim Klavier-, Geigenspiel und beim Komponieren. Er selbst liebte besonerts das Schachspiel, die Kartenspiele Tarock, Brandeln, Schmieren, Piquet und Tresette, das sonntägliche Bölzelschießen sowie das sommerliche Kegelspiel. Nach gelungener Darbietung bei fürstlichen und adeligen Gastgebern gab es die sogenannten Assemblées, das sind noble Gesellschaften und erlesene Gäste, bei denen gespeist, geplaudert und abschließend nahezu immer gespielt wurde. Eine ebenso gnädige wie ehrenvolle Einladung zu einem Kartenspiel oder einer Partie Billard durfte nicht abgelehnt werden. Selbstverständlich wurde um viel Geld gespielt, wo man mithalten musste - eine oftmals kostspielige Angelegenheit. Selbst beim relativ harmlosen Salzburger Bölzelschießen mit dem anschließenden Kartenspielen konnte Mozart im Laufe eines Jahres – wenn man Pech hatte – fast ein Drittel des Jahreseinkommens verspielen. Das Spielen war Gunstbeweis an einen hochadeligen Bewunderer, Ausgleich und Entspannung nach anstrengender künstlerischer Arbeit, genauso wie Trost und Ablenkung in den sorgenreichen Jahren der Krankheit und im Kampf ums finanzielle Überleben und nicht zuletzt Zeitvertreib in den vielen einsamen Wochen und Monaten in Kutschen, auf Reisen in der Fremde und in der kalten, finstren Jahreszeit. In der holprigen Kutsche entwickelten die Kinder erfindungsreiche Wort- und Reimspiele. Später entwickelten die vielsprachigen Mozartkinder ihre eigene familiäre Geheimsprache um im offenen Briefverkehr an Graf Colloredo vorbei ihre Meinung austauschen zu können, Wolfgang schrieb überhaupt teils freche, obszöne Briefe.

Mit vier Jahren erkannten die Eltern das Genie in ihrem Sohn: Wolferl war beim „komponieren spielen“. Er schrieb ein Konzert für Klavier, der Vater erkannte anfangs unter den Tintenklecksen gar nichts, da der Kleine viel patzte. Dennoch weiterschrieb, was der Vater schlussendlich entziffern konnte. Tränen der Bewunderung und Rührung rannen ihm über die Wangen als er erkannte, dass alles richtig und regelmäßig gesetzt ist, nur zu schwierig zum Spielen. Der Kleine konterte: Ist eben ein Konzert, man muß einfach lang üben. Und er spielte.
Da war den Eltern das Genie ihres Kindes bewusst, sie standen quasi vor einem Krokodil, vor einem Wunderkind.

Der Sechsjährige brauchte neben seinen extrem konzentrierten Musik- und Lehrstunden genügend körperlichen und seelischen Ausgleich, eben altersgemäßen Umgang: Mit den Nachbarskindern liefen sie um die Wette, spielten verstecken, Blinde Kuh, Fangen, Purzelbaum schlagen, Bockspringen, der Plumpsack geht um, Katze und Maus, Kegel und Kugeln, an Regentagen Rollenspiele Schule und Kaufmann, Turmbauen mit Holzklötzchen und Burgen, Reiter und Soldat, Koch oder Kaufmann, Hanswurst oder sonst ein komischer Kerl. Es gab Schaukeln, Kletterbäume und Spielplätze, Nannerl hatte die Puppe Salome Musch und Wolfgang den Hund Pimperl. Dazu kamen noch einfache Spielmittel, die man von Spaziergängen  und Reisen nach Hause brachte: Zapfen, Kastanien, Muscheln, Schneckenhäuser, Vogelnester, Hufeisen, bunte Steine, Haselstecken. Daraus konnte man leicht Steckenpferde basteln. Kleine Kinder bekamen ausrangierte Tarockkarten zum Spielen, malen und ausschneiden.
Im Schloßpark mit den Fürstenkindern wurde Federball gespielt und Reifenschleudern, in den prunkvollen Räumen Fangenspielen und Verstecken.

Auch Glücksspiele wie das Pharao gehörten zum Alltag. Selbstverständlich spielte man fast immer um Geld, sonst wäre das Risiko nicht spürbar gewesen. Die Verwegenheit, Risiken einzugehen, stimulierte das Lebensgefühl und beschleunigte es enorm. So war man präsent. Dadurch hielt man die Geistesgegenwärtigkeit wach, kam in eleganter Pirouette eines Spielverlaufs „auf den Punkt“ und damit „in der Gegenwart an“. Schließlich spielten Diplomaten und Militärs, vor allem in den kurzen Friedenszeiten, ausgiebigste Glückspiele und das offiziell verbotene Hazard, um sich im blitzschnellen Reagieren „fit“ zu halten – die Damen auch. Das Spiel war ernst, das Leben nicht unbedingt. Spiele gehörten zur ständigen Bewährungsherausforderung, beim Spielen im weitesten Sinn konnte man totalen Gesichtsverlust sowie den „sozialen Tod“ erleben, der im Grunde bedrohlicher war als der physische. Gestorben ist man ohnehin schnell – heute rot, morgen tot. So war auch die Galanterie nicht nur Ausdruck dekorativer Verspieltheit einer aristokratischen Gesellschaft, sondern beinharte Überlebensstrategie bei Hof.

Besonders für Nicht-Aristokraten wie für Vater Leopold und Sohn Mozart, aber auch für Giacomo Casanova und Lorenzo Da Ponte. Galt es doch für diese künstlerischen und intellektuellen „Symbolproduzenten“ und geistig kreativen Unterhalter der höfischen Adelsgesellschaft, viele Rollen und Identitäten gleichzeitig zu beherrschen, sonst wäre ihr Auftritt denkbar langweilig und öde gewesen – eine unerträgliche Vorstellung für die aufgeklärte Rokoko-Gesellschaft dieser Zeit eines Début de siècle noch vor der Französischen Revolution. Spielerisch allemal musste man sein, sollte man als Künstler von europäischem und somit von Weltrang damit rechnen dürfen, die Aufmerksamkeit eines Hofstaates wie des Fürsten nachhaltig auf sich zu ziehen. Die spätere Ich-Identität der bürgerlichen „Schuld- und Über-Ich-Gesellschaft“ des schon fortschrittsorientierten 19. Jahrhunderts war nicht gefragt – das Versprechen, man wäre immer nur ein-und-derselbe Charakter, auf den man wohl bauen könne, wäre in der Mozartzeit bloß auf Unverständnis wie Ablehnung gestoßen – war doch die dynastische Adelsgesellschaft vor der Französischen Revolution eine strukturell amoralische, wenn auch nicht unbedingt unmoralische, insgesamt eine strategisch-machiavellistische. Vor diesem Hintergrund war das Spiel der Figuren in der Oper, welche keineswegs etwas Museales an sich hatte (immerhin war kein Stück älter als 3 bis 5 Jahre), von sinnlicher Stimulanz, Scharfsinn, Witz und Ironie – und gab Gelegenheit dazu, sich in immer wieder neuen Individualismuskonzepten wiederholtermaßen „selbst zu erfinden“.

Gerade in den Gefilden von Erotik und Sexualität waren Spiele (auch die für Erwachsene adaptierten Kinderspiele) eine beliebte Matrix vielfältigster Inszenierungs- und Verführungsformen. Das berüchtigte Wadenmessen ermöglichte erst die körperliche echte Annäherung, das unter den Rock schauen. Die Damen trugen selbstverständlich keinen Slip, mehrere Unterröcke zwar, aber verbotene Einblicke und besonders intime Gerüche wurden von den Herren wahrgenommen.
Sexualität war im Grunde eine erweiterte Kommunikationsform und unschwer als begleitende sinnliche Glücksform im Alltag zu realisieren. Nicht nur deshalb waren die Ressourcen von Sinnlichkeit als libidinöses Unterfutter für die Konversationen im Alltag breit gefächert und aufregend allgegenwärtig – von beiden Geschlechtern aktiv in Balance gehalten. Musste doch ein leidenschaftsfähiger Verstand, der in einem „Bild-Denk-fähigen“ Bewusstsein seinen Ursprung hatte, spielerisch wie kombinatorisch experimentell sein, sonst wäre man weder in der festlichen Gesellschaft noch im sozialen Alltag erfolgreich gewesen oder überhaupt ernst genommen worden. Die Sensibilisierung für das Gefühl von Symmetrien bei Herstellung und Entfaltung erotischer Begehrlichkeiten konnte ihren Umweg über viele philosophische, naturwissenschaftliche, medizinische, künstlerische Themen und Bildungsinhalte nehmen – lebte man doch in einer noch pre-disziplinären Wissensgesellschaft: vor der übermächtigen Spezialisierung des Wissens im 19. Jahrhundert, in welchem es etwa zur Trennung zwischen Kunst, als der Domäne des Irrationalen, und einer „effizienzfiebrigen“ Rationalität kam. Spielerisch war die stets ins Erotische gleitende Konversation auch deshalb, weil die zumeist gemeinsam gewünschte Lustperspektive durch gleichsam tänzerisch entwickelte Erregungsstrategien den erwarteten Augenblick späterer Wolllust intensiver und raffinierter zu gestalten vermochte. So waren Verführungsstrategien, die über das vordergründig Sexuelle hinausgehend viele Bereiche der Lebens- und Wissenspraxis umfasst haben mögen, alltäglich – verführte man sich doch auch zu neuen Theorien, beispielsweise der Physik und des Bergbaus, sowie zu sozialen Utopien oder etwa zur Faszination für ungewöhnliche elektrische Experimente. Gerade diese wurden nicht nur hinsichtlich ihrer wissenschaftlich-technischen Effizienz bewertet, sondern vor allem als Unterhaltungswert für einen spielerischen Verlaufs einer Abendgesellschaft.
 
Casanova und Da Ponte waren Virtuosen der Verführungsstrategie in einem sehr handfesten Sinne – sie haben das Spiel der Inszenierungen von Erwartungshaltungen seitens der Damen mit Kunstfertigkeit beherrscht, so wie es uns die Marquise de Merteuile und Valmot in den „Liaison dangereuse“ so eindrucksvoll als Meisterschaft einer gleichsam psychotechnischen Manipulationsstrategie, also einer pornosophischen Spielbeherrschung vorführen. In Vergleich zu den beiden war Mozart ein Verführer der besonderen Art – gelang es ihm doch damals, wie es seiner Musik heute noch gelingt, die Menschen zu den, ihnen je eigenen Freiheitsgefühlen zu verführen, also im Grunde immer zu sich selbst, als sich authentisch und souverän erlebend. Vielleicht ist das der Grund, warum wir den Verführer Mozart kaum hassen. Mozarts Verführungsstrategien durch das Medium Musik bilden einen Sog, der uns immer noch in die Wechselverhältnisse von Da Pontes Figuren im Plot diverser Liebes- und Machtvertrickungen hineinzuziehen vermag. Der Librettist und der Compositeur sind die Spielmacher. Das mussten sie immerhin auch sein, denn die Oper als „höchste Kunstform“ bei Hofe war die Kreation eines Kosmos, in der sich die Allmachtsfigur des Herrschers und seines Hofstaates komplett wiederzufinden hatte – ein nach vielfältigen Regeln vorgegebene Spielformat. Librettist und Compositeur mussten, um den Auftrag einer Oper erfüllen zu können, den Allmachtsphantasien des Herrschers teilhaftig werden, sonst hätten sie keine Oper schreiben können. Weil man aber die Oper brauchte, um etwa standesgemäß heiraten zu können, waren die Künstler bei Hofe für diesen so etwas wie „ästhetische Symbolproduzenten“ – unerlässlich, wie andererseits der Fleischhauer oder Bäcker, der Architekt und Maler auch. Die Inszenierung der höfischen Gesellschaft war im Grunde eine Konfiguration für permanente Spielanlässe, welche sozusagen als Vorgabe „imaginärer Spielsituationen“ je und je aktualisiert werden konnten.

Vater Leopold schrieb höchst zufrieden aus Rom zurück nach Salzburg, dass der Wolfgang, damals siebenjährig, ohne Vorzeigen irgendwelcher Empfehlungsschreiben durch die Portale des Vatikans hinein gegangen sei, weil er für einen Prinzen gehalten worden wäre – ihn, Leopold, hielt man immerhin für „seinen Haushofmeister“. Ähnlich stolz musste Vater Mozart schon vorher gewesen sein, als sein Genie-Bub mit dem Ausdruck größter Selbstverständlichkeit und überzeugender Spontaneität Marie-Antoinette geküsst hatte – immerhin musste man diesen „spielerischen Auftritt“ des Wunderkinds sorgfältigst bis zu jener Perfektion hin geprobt haben, welche zuletzt immer mehr als echt wirkt. Soziale Rollen-Mimikri gehörten von Anfang an zur Erziehung und Ausbildung des Knaben und trugen dazu bei, dass er sich wohl vielfältigste Persönlichkeitsvarianten auszudenken vermochte, um sie durch seine Einbildungskraft miteinander in Beziehung treten zu lassen. Dies bringt uns wieder zur Oper zurück und zur kaum vorstellbaren Fähigkeit Mozarts, sich alle Rollenträger, im Spiel des Handlungsverlaufs, offenbar in ihren Wechselverhältnissen gleichzeitig als agierend sowie zusätzlich in ihren gegenseitigen Gefühlsentsprechungen vorzustellen. Dazu mochte das Wunderkind schon sehr früh fähig gewesen zu sein.

Dies musste schon bei den Eltern Mozart den Eindruck des Monströsen bei ihrem Sohn hinterlassen haben – der Dirigent Nicolaus Harnoncuort fasst es in einem Satz trefflich zusammen: „Dann saßen sie vor einem Krokodil“. Gemeint war damit die unverwischbare Wahrnehmung des kleinen „Wunderkind-Automaten“ Wolferl, welcher anscheinend schon beim bloßen Zuhören symphonischer Musik sowie zweier Kompositionslektionen durch den Vater imstande war, die Struktur der Musik analytisch zu erfassen und sich aus dieser Einsicht heraus zu befähigen, eine ähnlich strukturierte Komposition selbst zu verfertigen. Diese enorme kombinatorische Leistung verdankte sich einem Ingenium, welches schon bei Kinderspielen eine Fähigkeit der Kombinatorik entwickeln konnte, welches ihm alsbald beim Komponieren half. So war Mozart schon als Kind im Schatten seines Wunderkind-Daseins von obsessivem Spielinteresse erfüllt. Noch ging es beispielsweise um das Hölzelspiel und an die zwanzig weiteren Spiele, mit denen sich Kinder seines Alters zu beschäftigen gewohnt waren – das „Wadenmessen“ war für die Adoleszenten wohl besonders aufregend, immerhin ging es um das Hantieren mit den nackten Beinen junger Damen. Für solche Kinderspiele fanden auch Erwachsene nachhaltig Interesse, wenn man etwa an ein performativ erweitertes Blindekuh-Spiel denkt, welches über geraume Zeit dauern einladende Gelegenheit zum Gruppen-Petting bot.

Erst aus den Affekt-Modulationen der damaligen Zeit entstanden die individuellen Gefühle und deren Inszenierung im Erfassen pikanter Situationen. Das Erlernen und Verfeinern dieser libidinösen Gefühlsraffinesse verdankte sich einer Intelligenz des Geschmacks, welche mit der Ausdifferenzierung von Sinnlichkeit genauso präzise umzugehen wusste wie beim Verstandesgebrauch mit brillanten Reflexionsfiguren. Mozart war all dieser nuancenreichen Spielformen kundig, war er doch selbst ein ausgezeichneter Tänzer, der die gestische Rhetorik der Galanterie so zu beherrschen verstand, wie sein virtuoses Spiel am Instrument. Zu Hilfe kam ihm dabei wohl seine unglaubliche Gedächtnisleistung, vergleichbar der eines idiot savant: allerdings war Mozarts Gedächtnisfähigkeit künstlerisch-produktiv „steuerbar“, wenn er wohl beim Spielen eines Konzerts schon optionale Musiken gleichsam vorkomponiert haben mag, um sie in der Nacht noch spät mit größter Behändigkeit aufs Notenpapier zu bringen – meist ohne korrigieren zu müssen. Über derartige artistische Allgegenwärtigkeit von Ingenium und Komponiertechnik verfügte Mozart lebenslang: So über die eigentümliche Begabung, einen Kosmos von Parallelwelten zu erzeugen, und selbige gleichzeitig miteinander in Beziehung setzen zu können – unter den Bedingungen enorm beschleunigter Produktionsverhältnisse: Kompositionsdauer für „Figaros Hochzeit“ 12 Wochen. Sich in diesen Parallelwelten kreativ zu entfalten, gelang ihm offenbar auf Grund seiner unvorstellbaren Gedächtnisleistung, schon Erlebtes in musikalischer Neuschöpfung von höchster Komplexität so zu kreieren, dass es für seine Welt und die danach exemplarischen Charakter erhielt. Und dies gleichsam als „Konstrukteur des Augenblicks“, indem er vermochte, den unwiederbringlichen Moment „höchster Plötzlichkeit“ dem Publikum „in Echtzeit“ zu vermitteln. Eine ihm unbekannte Melodie, welche eine Comtesse aus festlichem Anlass zum Besten gab, konnte Mozart auf dem Hammerklavier ad hoc so begleiten, dass die zuhörende Gesellschaft unisono den Eindruck gehabt haben musste, er wäre der Komponist des Liedes gewesen – dabei war es perfekte Improvisation. Um die kollektive Energie der Aufmerksamkeit, welche dem Wunderkind bei einem solchen Konzert etwas 3 Stunden lang zuströmte, richtig einschätzen zu können, sollte man sich vor Augen führen, dass schon der Sekundenblick der Fürstlichkeit auf Nicht-Aristokraten die Nachhaltigkeit eines zweijährigen Glücksgefühls zur Folge haben konnte. Sozusagen mit narzisstischem „Allmacht-Kokain“ abgefüllt und beschleunigt formierten sich in diesem Wunderkind schon während der virtuosen Darbietung besagte neue musikalischen Optionen im Kopfe: auch eine Art von Spielen.

Allgegenwärtig muss Mozart dabei auch ein weiter Bildungshorizont gewesen sein, den er gleichermaßen beherrschte wie mehrere europäische Sprachen sowie Spiele und Glückspiele, die ihn auch dazu befähigt haben mussten, auf Reisen Kontakte zu schließen. Ohne die etwa 40 relevanten Spieltypen … beherrschen zu können war es wohl nicht möglich, sich in einem supranationalen Europa auf Reisen zu begeben – musste man doch die Spiele, welche den jeweiligen Städten als guter oder schlechter Ruf vorausgingen, beherrschen – so Lotterie in Rom. Ansonsten konnte man sich in Gesellschaft wohl kaum elegant bewegen. Abgesehen davon, dienten auf den tagelangen Kutschenreisen diese unterhaltsamen wie anspruchsvoll verwegenen Spiele buchstäblich zum Zeitvertreib. Durch das Spiel schärfte Mozart seine Intelligenz und entfaltete indirekt auch über seine Spielleidenschaft ein stupendes Talent, in vielen Parallelwelten gleichzeitig zu existieren.

Offenbar vermochte Mozart in vielen Rollen simultan zu existieren, um den schöpferischen Reiz der größten Komplexität im Augenblick höchster Intensität so richtig auskosten zu können. So hatte sein genuiner Kosmos sich daran gemessen, viele „Welten“ in sich musikalisch entstehen lassen zu können, in welchen er parallel Facetten seiner Persönlichkeit auszuleben verstand – letztendlich zur Freude aller HörerInnen seiner Musik. Andererseits war er von totaler Freiheitsobsession geprägt, welche zu sofortiger Auflehnung führte, wenn sich eine Autorität anmaßend vor ihm aufbaute, respektive sich seiner bemächtigen wollte: so etwa der katholisch-aufgeklärte Erzbischof Colloredo von Salzburg, welcher Mozarts Freiheitsstreben brechen wollte, indem er ihm das Reisen zu verbieten suchte. „Er hat nicht zu reisen“ reichte für Mozart, um sofort zu kündigen. Diese konsequente Freiheitsliebe vermittelt sich auch seiner Musik – immerhin „verführt“ uns diese seit mehr als 200 Jahren nach wie vor zu unseren je eigenen Freiheitsgefühlen. Solches Selbstbewusstsein spontan an den Tag legen zu können verdankte Mozart nicht zuletzt seiner Geistesgegenwärtigkeit, die er sich beim Spiel zu schärfen wusste.

Schon als Kind verblüffte er seine Umgebung. Chamäleonartig und spiegelgleich konnte er sich den sozialen Umgebungen anpassen; dies zu verfeinern und zu perfektionieren war Ziel von Vater Leopolds Erziehung. Auch das ist mit seiner Fähigkeit, Parallelwelten zu generieren, gemeint: Mozart beherrschte ein vielseitiges Repertoire an Rollen und Identitäten, vergleichbar jener sprichwörtlichen Notwendigkeit der „Fülle seiner Noten“ – dies mochte ihm später beim Komponieren seiner Opern geholfen haben, indem er von der mehrdeutigen Ambiguität der Libretto-Texte Lorenzo Da Pontes inspiriert, alle involvierten Figuren sich permanent, als emotionell aufeinander bezogen, vorzustellen vermochte. Offenbar brauchte er diese ständige Bewegung und Beweglichkeit, um möglichst viele „Leben“ nebeneinander führen zu können und dabei kreativ zu Hochform aufzulaufen. Der größte Lärm war ihm gerade gut genug, um beste Kompositionsarbeit zu leisten. Bekannt war auch seine Gewohnheit, während der Spielpausen bei dem von ihm so geliebten Billard zu komponieren oder sich Kompositionsnotizen zu machen. Blieb einmal eine neunstimmige Komposition liegen, welche er mitzunehmen vergessen hatte, war Mozart imstande, 2 Tage später mit unmittelbarer Taktfolge weiter zu komponieren, ohne das vergessene Blatt inzwischen gesehen zu haben.

Diese Eindrücke und Beobachtungen waren bei unserer Arbeit am Buch maßgeblich inspirierend und haben seine „Logik dahinter“ formulieren geholfen. Im Wechsel von Ölbild, Grafik und der aktuellen Comics von Budde entstand ein vielfältiges Medium eigener Virtualität, welches durch die Texte von Laube den Kindern und deren Eltern ermöglicht, mit den Elementen des Buches weiter zu spielen, Kommunikation zu eröffnen, eben mal keinem Mozartbild nachzulaufen, sondern den eigenen Mozart „in sich selbst“ zu entdecken. Bunt, kontrastreich, sensibel hat das Buch die Geschmacksintelligenz von Kindern und Erwachsenen herausgefordert – und das war für uns als funktionierendes Ergebnis einmal mehr überraschend. Alles fügte sich am Ende wie bei einem Puzzlespiel „als komplett“ zusammen. Vergleichbar einem sehr komplexen Film haben sich alle Elemente zuletzt in ihrer Einfachheit trotzdem ausdifferenziert – damit wurde nachhaltig das Selbstgefühl eigener Sensibilisierung erzeugt. Unsere im Buch erzeugte Virtualität ist insofern „realer“ als die technologische „virtual reality“, indem durch einfache, durchaus konventionelle Vermittlungsformate viel mehr Imaginations- und Denkraum erzeugt wird, als es so manche elektronisch perfektionierte Kinderspiele oder Videos vermögen.

Der experimentelle Charakter der Mozartzeit vor und kurz nach der Französischen Revolution findet sich in der Struktur des Buches wieder, haben wir doch unterschiedlichste Medien von Wissensvermittlung in eine Art von Gleichzeitigkeit gebracht, welche der Erkenntnisvielfalt und vor allem der angestrebten Erfahrungsbreite dieser Zeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts entspricht: Ging es doch damals wie heute um besagte Virtualität – darum, dass die Vorstellung der unverwirklichbaren Möglichkeiten, kurzum die Imagination des Unmöglichen, dazu führt, das Bewusstsein für schrille Kontraste oder für stimulierend erregende Gegensätze überhaupt zu konditionieren. Erst dann ist eine sinnliche Lebenspraxis des Verführens experimentell möglich. Das Buch ist in hohem Maße informativ, weil es die Vielfalt dieser vordisziplinären Wissensgesellschaft zeigt und begreifbar macht, dass nicht Theorie „grau und da“ und Leben „grün und dort“ ist, sondern dass der Verstand leidenschaftsfähig sein kann und immer als Teil der künstlerischen Einbildungskraft lebendig bleibt. Geschmacksintelligenz ist heute mehr erforderlich denn je – vermeint man Geschmack bloß 2 Stunden am Tag zu haben, dann hat man keinen. Mozart im Kontext der Wissenskultur seiner Zeit und dem gesellschaftlichen Setting von Courtoisie und Galanterie zu begreifen, hat uns große Freude an der Arbeit gemacht. Für uns entstand unvermutet ein Modell für „Bildung neu“, ein Modell von Orientierungswissen, welches dem Begriff des Ingeniums nahe kommt. Ingenuity, als die gemeinsame schöpferische Quelle menschlicher Phantasie, vereint künstlerische Einbildungskraft wie Kreativität und wissenschaftlich technische Innovationskraft miteinander. Kunst und Alltag werden als kulturelle Vermittlung gezeigt, in einem interkulturellen wie supranationalen Europa des 18. Jahrhunderts.